Ferdinand Hodler
Alle Wasser des großen Tals, die der Wolken, des Firns, der Quellen, der Bäche; die der Sägemühlen, der Metzgereien, die grauen, die klaren, alle Wasser vereinen sich in einem tiefen Bett. So verlieren sie ihren Namen. Doch sie erschaffen einen neuen: die Rhône. Geboren im Schreien der Alpenquellen, finden diese wilden Wasser ihren Frieden im Murmeln der Rhône. Später, nahe der Mündung, wird das tiefe, kalte Wasser in undurchsichtiger Glätte fließen. Dennoch wird die Rhône dem Léman ihr kühles Geleit bieten, Erbe ihrer einstigen bergigen Gewalt. Plötzlich ist der See da, blau wie eine Leinenblume. Darüber, weiß wie eine Leinwand, schweben reglose Wolken. An frühen Frühlingstagen, wenn Gewitter aufziehen, wenn das Wasser hoch ist, dann ist die Hochzeit von Fluss und See stürmisch.
Heute jedoch ist alles ruhig. Weder Wind noch Wellen. Die Rhône schläft in der Tiefe. Nur eine leichte Brise – im Waadtländer Dialekt „Rebat“ genannt – streichelt die geschmolzene Zinnoberfläche des Wassers, die wie geliebte Haut zittert. Die Brise ist eine geschickte Aquarellmalerin. Ein erster, brillanter Strich wird auf die Horizontlinie aufgetragen. Dann erscheinen weitere Pinselstriche auf der Meeresoberfläche. Hier trägt die Aquarellmalerin klare, dort dunkle Tusche auf. Ihr Pinsel leiht sich Blau vom Himmel, findet Grau und Ocker in den Bergen, greift nach sanftem Grün im Weinberg. Plötzlich wischt sie alles weg und beginnt von vorne. Die Nuancen des Genfersees sind wie Musik, die nur in der Dauer komponiert ist. Obwohl Himmel und Wasser uns Gefühle von Dichte und Tiefenschärfe vermitteln, sind Versuche, diese Gefühle auf Papier auszudrücken, aussichtslos. Die Farben der Welt sind wie Schmetterlinge. Sind sie festgenagelt, sterben sie. Nach André Guex. Bergsteiger, Segler, Sekundarschullehrer in Lausanne. 1904 - 1988. Siehe auch: Voiles et carènes von ihm. Herausgeber: Editions 24-Heures, Lausanne, 1981.
Beide Bilder stammen aus Ferndinand Hodler: Le Léman depuis Chexbres, 1905. Das erste Bild blickt im Morgengrauen nach Südosten, das zweite Bild nach Westen am Nachmittag.